Ich möchte eine Kurzggeschichte mit euch teilen, die ich geschrieben habe. Viel Spaß!
„Wie bindest du dir denn die Schuhe zu?“, fragt sie neugierig. Ich schaue aus dem Fenster. Der Stadtbus trottet dahin, öffnet seine Türen, schließt sie wieder. Ich sitze vollbepackt gegenüber von meiner Gesprächspartnerin. Ich gebe mir selbst die Schuld. Warum ist der Henkel meiner Tasche genau jetzt gerissen, während ich umzingelt von Menschen in einem Bus sitze. Warum sitze ich in einem Bus. Normalerweise fuhr ich immer mit dem Fahrrad. Nur heute erschien es mir, als könne ich mir den Bus gönnen. Gönnen, als wäre Bus fahren etwas Großartiges. Und dabei hätte ich wissen müssen, dass die Entscheidung, gemeinsam mit anderen Menschen durch den Stadtverkehr zu reisen, anstatt allein mit dem Fahrrad unterwegs zu sein nicht die beste Entscheidung ist. „Ganz normal eben“, lasse ich mich zu einer Antwort hinreißen. Ich möchte nicht unhöflich sein. Ich fange an zu überlegen, ob ich an einer früheren Bushaltestelle aussteigen soll. Das würde aber bedeuten, die schwere Tasche, die voll mit meinen Büchern ist, länger zu tragen. Heute ist ein aufregender Tag für mich. Ich werde einen Vortrag halten und benotet werden. Ich studiere Jura und bin gerade in meiner Examensvorbereitung. Die Bücher, die so schwer sind und pflichtschuldig neben mir in der blöden Tasche ohne Henkel liegen, sind Gesetzestexte. Ich denke darüber nach, dass der Ausdruck Bücher manchmal besser klingt als Gesetzestexte. Die Frau schaut mich mitleidig an. Sie ist um die 50, wahrscheinlich eher 60, aber wer weiß das schon so genau. Alles an ihr besteht aus Grautönen. Sie will liebevoll sein, Aufmerksamkeit demonstrieren. Aber vor allem möchte sie eine Geschichte haben, etwas, das nicht grau ist. Bei jedem anderen Mädchen, dem der Henkel einer Tasche abreißt, hätte sie kurz hin- und wieder weggeschaut. Aber diesmal hat sie ein zweites Mal hingeschaut und dann den Blick nicht mehr abgewendet. Das sind mir die Unliebsten, insbesondere da sie Fremde sind. „Ich könnte das ja nicht“, sagt die Frau und reißt mich aus meinen Gedanken. „Aber du machst das ganz toll.“ Sie nickt sie mir zu, der mitleidige Blick verstärkt sich. Ihre Augen wandern zu den meinen und ich weiß, dass sie Bestätigung sucht. Mein Blick geht nach oben zur Anzeige. Meine Haltestelle lässt auf sich warten. Ich habe mich entschieden, im Bus sitzen zu bleiben. Immerhin habe ich das Busticket gekauft. Ich frage mich, ob ich mich vielleicht umsetzen könnte. Manchmal träume ich davon, mutiger zu sein, weniger auf die Etiquette zu geben. Aber wie würde es auf die Frau wirken, wenn ich mich umsetzte. Ich möchte sie nicht verletzen, auch wenn sie eine Fremde ist. Endlich erscheint die Haltestelle auf der Anzeige, es ist bald so weit. Aber eine letzte Frage werde ich noch hören, da bin ich mir sicher. Ich fange an, meine Sachen zusammenzupacken und versuche Aufbruchstimmung zu vermitteln. Der Blick der Frau ruht auf meinem Arm, dem Arm ohne Hand. „Hattest du einen Unfall?“, fragt sie interessiert. Ich schlucke und stehe auf. Ich kann mich zu einem „Nein, tschüss, ich muss los“ durchringen. Die Tür des Busses öffnet sich, schließt hinter mir und ich kann wieder durchatmen. Es fühlt sich wie Freiheit an. Für einen Moment lasse ich die plötzliche Anonymität auf mich wirken. Ich ziehe meinen Jackenärmel wieder runter, um meine Behinderung zu verstecken und mache mich auf den Weg zu meinem Vortrag.